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Gespräch mit Mariana Chenillo (Cinco días sin Nora, México 2009)

— Brigitte Siegrist © para PuntoLatino —


Auch wenn du das Ganze mit Humor betrachtest, was hat dich als noch junge Filmemacherin dazu bewogen, deinen ersten Spielfilm am Ende des Lebens anzusiedeln?

Die Geschichte widerspiegelt zum Teil eine Begebenheit, die sich in meinem persönlichen Umfeld abgespielt hat. Meine Grosseltern wohnten getrennt, aber in derselben Strasse, sozusagen Balkon an Balkon. Ihre Beziehung war ähnlich wie die von Nora und José. Sie gingen scheinbar getrennte Wege, in Tat und Wahrheit hatten sie aber nie aufgehört, sich nahe zu sein. Nach dem Tod meiner Grossmutter machte mein Grossvater etwas Ähnliches durch wie José im Film, das heisst, eigentlich nicht nur der Grossvater, sondern die ganze Familie. Den Prozess der Versöhnung, der im Laufe der Geschichte stattfindet, habe ich in der Figur des Grossvaters konzentriert und auf fünf Tage reduziert, was sich in Wirklichkeit über mehrere Jahre erstreckte. Die Irrungen und Wirrungen im Film sind schliesslich reine Fiktion.

Ich wollte diese Entwicklung sichtbar machen: Wie geht das oder was muss passieren, damit man einem nahestehenden Menschen, auch wenn man ihn nicht verstehen kann, sei es, weil er den Freitod gewählt hat oder sonst irgendetwas getan hat, das uns schmerzt, dass man ihm trotzdem verzeihen und sich mit ihm versöhnen kann. Man kann einen Menschen lieben, obwohl man ihn mit dem Verstand nicht begreift.

Daher rührt also die Geschichte. Ich habe mich natürlich selbst auch gefragt: Wieso machst du einen solchen Film? Nun, wenn man eine prägende Geschichte erlebt hat, muss man sie einfach mal erzählen, um sich danach auf anderes konzentrieren zu können.

Abgesehen von diesem persönlichen Bezug pflegt man in Mexiko generell einen andern Umgang mit dem Tod als in Europa.

Ja, klar, in Mexiko gibt es zwei starke Traditionen, die sich eigentlich gegenseitig widersprechen. Auf der einen Seite ist da das katholische Erbe der spanischen Kultur, auf der andern Seite haben Konzepte und Vorstellungen aus der Zeit vor Kolumbus überlebt. Die Toten bleiben irgendwie lebendiger Teil der Familie, gehören zum Alltag. Am Tag der Toten finden Rituale auf dem Friedhof statt, aber auch zuhause stellt man Altare auf für die Verstorbenen, dekoriert sie mit Objekten, die diese besonders gemocht haben – und offeriert ihnen ihr Lieblingsessen. Das macht sie präsent und auch wenn das nur einmal im Jahr stattfindet, so ist das doch repäsentativ dafür, welche Vision man vom Tod hat. Man geht das alles auch mit Humor an, es werden Reime gedichtet über die Toten und die noch Lebenden, es ist wohl insgesamt eine leichtere Annäherung an den Tod als anderswo, wo die Erinnerung eher ernst und feierlich begangen wird.

Hast du Angst vor dem Tod?

Na ja, das haben wir wohl alle. Aber mein Bewusstsein hat sich während der Dreharbeiten diesbezüglich erweitert, das kann ich sagen. Die Tatsache, dass man solange mit dem Thema beschäftigt ist und dass da von Anfang an eine Leiche mittendrin ist, macht etwas mit einem. Auf der andern Seite geht es Film aber eher um die Lebenden, denn das Leben geht ja weiter. Mehr als um die Gründe, die Nora zu ihrem Freitod bewegt haben könnten, dreht sich im Film alles um die Zurückgebliebenen und die Frage, wie geht die Familie damit um?

Und die findet über das Essen zusammen

Ja, das Essen hat natürlich seine Bedeutung, es wird mit viel Liebe zubereitet und gehört zur Versöhnung. Für Nora ist es wichtig, die Familie in einem letzten Akt der Liebe zu vereinen.

Wie ist denn dein Verhältnis zur Religion?

Der Film hätte perfekt auch in einem andern Milieu angesiedelt werden und funktionieren können. Es war aber wichtig für mich, die Geschichte in meinem Umfeld zu verankern. Meine Familie ist jüdischer Abstammung, auch wenn meine Eltern nicht praktizierend sind.

Allein die Tatsache, dass es in der Geschichte eine Tote gibt, verlangt nach einem Ritual. Und schon war die Religion auf dem Tapet. Dann entdeckte ich darin aber auch ein narratives Element. José, der teilweise nach meinem Grossvater geschnitzt ist, verweigert sich jeglicher Teilnahme an Noras Plan. Ihn hier als Atheisten einer stark ritualisierten Religion gegenüberzustellen, half mir, die Geschichte zu strukturieren.

Es gab einen weiteren wesentlichen Grund für diesen Entscheid: Ich nehme die Tendenz war - zumindest hier in Mexiko, aber ich denke es ist auch andernorts der Fall -, dass Geschichten aus ihrem Kontext gelöst und in einer quasi abstrakten, städtischen und immergleichen Mittelschicht angesiedelt werden. Eine Art globalisiertes Kino, mit Seitenblick auf die Kinokasse. Man kann nicht mehr nachvollziehen, woher die Menschen kommen oder es ist, als kämen wir alle von ein und demselben Ort. Ich komme aus einem Land, das katholisch geprägt ist, und entschied mich, aus dem Kreis heraus zu erzählen, der mir vertraut ist, dem Film also mit der jüdischen Familie ein Etikett zu geben anstatt von einer Durchschnittsfamilie zu sprechen. Natürlich ist nachher dann alles sehr übertrieben gezeichnet.

Die jüdische Tradition pflegt einen sehr weisen Umgang mit dem Tod. Sie lässt mehrere Lesearten zu und besteht aus vielen Schichten. Es gibt eine philosophische Seite rund um die Fragen, was mit der Seele geschieht, wohin sie geht und so weiter, aber auch eine stark weltliche Ausrichtung, die sich um die Zurückgebliebenen kümmert, ihnen hilft, wieder ins normale Leben zurückzufinden. Da liegt der Fokus im Film.

Wiederholte Male nehmen die Tora-Gelehrten im Wohnzimmer die Sofakissen weg - José legt sie dann wieder zurück. Was hat es damit auf sich?

Das gehört zum Trauerritual. Die nahestehenden Trauernden sollen sich an einem härteren und umbequemeren Ort niederlassen.

Gibt es in Mexiko eine bedeutende jüdische Gemeinde?

Bedeutend nicht, sie ist klein, so ungefähr 100'000 Menschen vielleicht, aber sie vermischt sich wenig, bleibt eher unter sich, unabhängig davon, ob sie ihre Religion praktizieren oder nicht.

Wie siehst du den Bezug zur klassischen jüdischen Komödie wie sie Lubitsch und andere kultiviert haben und immer noch kultivieren?

Während den Vorbereitungen gab es eine Etappe, in der ich mir viele Komödien angeschaut habe - jüdische und nicht jüdische. Cinco días sin Nora liegt wohl irgendwo dazwischen. Im Prinzip gibt es einen ersten Grundton im Film, über den Kontrast der Figuren, ihre Konstellationen und die absurden Situationen wird daraus eine Komödie. Ich habe vieles angeschaut, einiges von Woody Allen, und mich in gewisser Weise davon genährt, trotzdem aber nicht auf alle Fragen eine Antwort gefunden. Schliesslich war es eher ein intuitiver Prozess und ging es darum, nicht ins Possenhafte zu gleiten, den richtigen und eigenen Ton zu finden. Ein eigentliches Beispiel oder Vorbild hatte ich nicht.

Mehr als der Ton oder bestimmte Themen hat mich sowieso die Verwandlung oder die Entwicklung der Hauptfigur interessiert. About Schmidt von Alexander Payne zum Beispiel zeigt diese Veränderung sehr gut und hat mich etwas über die Bedeutung der Zeit, der Filmzeit gelehrt. So bewirkt der Weg von einer unbeugsamen Person zu jemandem, der zu akzeptieren lernt und sich schliesslich konstruktiv verhält, in uns ZuschauerInnen Erleichterung.

Gibt es eine Definition von jüdischem Humor?

Eine schwierige Frage. Grundsätzlich ist es eine Kultur, die eher Fragen stellt als Antworten gibt. Dieses kontinuierliche Infragestellen erleichtert es vielleicht, auch über sich selber zu lachen. Aber das ist wohl schon sehr verallgemeinernd gesprochen.

Humor und Religion, das ist ja oft auch ein schwierig zu vermählendes Paar. Man könnte leicht persönliche Gefühle verletzen. Im Film ist dir hier ein perfektes Gleichgewicht gelungen. Hast du besonders darauf geachtet?

Wie soll ich sagen ... das Drehbuch, der ganze Schreibprozess dauerte ziemlich lange, weil wir so viel Zeit benötigten, um die Mittel für den Film aufzutreiben. Das gab mir die Möglichkeit, es auszufeilen, die Absurdität nur genau so weit zu treiben, wie es nötig war. Ich achtete schon darauf, niemanden zu verletzen, da es aber nie meine Absicht war, didaktisch oder kritisch zu sein, passierte auch vieles ganz natürlich.

Beim Recherchieren habe ich entdeckt, dass in Fragen des Selbstmordes in der jüdischen Religion eine Polemik in Gang ist, die noch nicht abgeschlossen ist. Da bestehen noch keine abschliessenden Antworten wie zum Beispiel bei der Abtreibung oder der Scheidung. Es gibt viele, sehr unterschiedliche Gesichtspunkte und es gehört eben auch zur jüdischen Religion, dass sie verschiedene Ansichten toleriert. Ich wollte ja keinen Film über Religionen machen, es schien mir aber, dass dies auch ein Spiegel der Gesellschaft sein könnte, denn wer versteht schon, dass und weshalb sich jemand umbringt? Kurz und gut, es gibt verschiedene Interpretationen und die äussern sich eben auch in einer unterschiedlichen Praxis der Friedhöfe. Selbstmord wird mittlerweile als Krankheit angesehen, also lädt die betreffende Person keine Schuld auf sich, was dazu führt, dass einige Friedhöfe mehr erlauben als andere.

Was den Humor im Allgemeinen anbelangt, so fand ein interessanter Prozess auf dem Set statt. Fernando Luján, der die Hauptrolle innehat, war mit mir und meiner realistischen Darstellung der Dinge nicht immer einverstanden. Er war nicht davon überzeugt, dass der subtile Humor funktionieren würde. Auch die andern SchauspielerInnen hatten ihre Zweifel und ich musste darauf achten, dass sie den Witz nicht auf dem Set suchten, mir war nämlich klar, dass er im Drehbuch war.

Hast du dich beim Drehen genau ans Script gehalten?

Auf den ersten Blick scheint der Film sehr nah am Drehbuch und doch gibt es bei genauerer Betrachtung grosse Unterschiede. Das Script war sehr viel länger, ausführlicher, expliziter, doch das ist wohl insbesondere bei einem ersten Film ein zu erfahrender Lernzprozess, man merkt, dass es gar nicht so viel Information braucht. Erst beim Schneiden habe ich den Film wirklich fertig geschrieben und verstanden, welchen Film ich eigentlich machte.

Das hat sich unter anderem in den Flashbacks niedergeschlagen. Im Drehbuch war das Verhältnis von Gegenwart und Rückblenden wohl so 70 zu 30%, doch nach und nach entfielen die Szenen, die in der Vergangenheit spielen, zuletzt beim Schneiden. Würde ich die Geschichte nochmals erzählen, würde ich vielleicht gänzlich auf sie verzichten, aber hier bei meinem ersten Film war es im Nachhinein nicht mehr möglich und es wäre auch nicht ehrlich gewesen. Wir hätten den Film quasi gesäubert, mit Chlor desinfiziert, wären nicht zur Entwicklung der Geschichte gestanden. Ohne den einfachsten Weg gehen zu wollen ... gewisse Knackpunkte hätte ich beim Schreiben ohne Rückblenden nicht zu lösen vermocht. Es kamen auch Gefühle rein, die mir wichtig waren, ganz abgesehen davon, dass mir zum Beispiel bei der letzten Rückblende schlicht die Zeit gefehlt hätte, den Gehalt in anderer Form zu vermitteln.

Gab es weitere überraschende Erfahrungen?

Vielleicht war die Sache mit der Wohnung so etwas. Ich war mir nicht bewusst, dass die Tatsache, alles oder beinahe alles in einem Appartement zu filmen, ein Risiko darstellen könnte. Als wir am vierten Drehtag immer noch im Eingangsbereich filmten, sprach mich der Kameramann darauf an und meinte, wir müssten aufpassen, dass es nicht langweilig würde. Das war mir nie durch den Kopf gegangen. Ich war so in die Geschichte vertieft, die mir genügend narrative Elemente bot, dass ich diese Angst einfach nicht kannte. Es war natürlich gut, dass er mich darauf aufmerkam machte, trotzdem war ich bis zum Schluss überzeugt, dass ich etwas zu erzählen hatte und die Geschichte komplex genug war.

Das Genre der Komödie bringt einen versöhnlichen Schluss mit sich. Hast du beim Entwickeln der Geschichte auch mal an eine andere Variante gedacht?

Klar, es ist mein erster Film, man stellt sich viele Fragen. Trotzdem war für mich von Anfang an klar, was ich erzählen wollte und was passieren würde. Ich hatte das reinste Vergnügen daran, diesen Verlauf zu schildern. Ich habe mich nie gefragt: „Was könnte jetzt am interessantesten sein?“. Ich glaube nur bei zwei Kritiken gelesen zu haben, der Film sei absehbar. Auf der einen Seite bin ich damit einverstanden und kann mich ja auch noch verbessern. Auf der andern Seite war es nie meine Absicht, enigmatisch zu sein oder etwas Rätselhaftes darzustellen, ich wollte ganz einfach zeigen, was mit einer Familie passiert, wenn jemand stirbt. Sogar wenn der Tod lange angekündigt war, versteht man ihn nicht.

Schon die dramatische Linie mit dem Foto, das herunterfällt, bereitete mir Kopfschmerzen. Es schien mir eigentlich zu viel der Fiktion und doch verlangte die Geschichte nach Elementen, die sie vorantrieben. Ich wollte einfach den Prozess geniessen, den José durchläuft, wie er laufend Dinge entdeckt, die er vorher nicht gesehen oder bemerkt hatte, und ihn dahin bringen, für einen Moment davon abzusehen, über jemanden zu urteilen.

Welche Figur steht dir denn am nächsten?

Der Film ist rund um José konstruiert, alles im Film passiert, damit diese Figur sich entwicklen kann. Er stand also für mich im Zentrum. Die beiden Mädchen waren aber auch wichtig für mich, obwohl sie keine tragenden Rollen innehaben. Sie ermöglichten mir – durch die Fragen, die sie stellen – das Spektrum zu erweitern, eine andere Sicht auf die Dinge und den Tod aufzuzeigen, auch eine spirituellere.

Brigitte Siegrist © para PuntoLatino



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